„Da war Alonso nicht mutig genug“

Ulf Kirsten gilt bei Bayer Leverkusen als eine Legende. Vor dem Champions-League-Kracher gegen den FC Bayern sprach Kirsten im exklusiven SPORT1-Interview über das Duell auf Augenhöhe, Florian Wirtz und Joshua Kimmich.

Mit 181 Toren ist er bis heute der erfolgreichste Torjäger von Bayer Leverkusen und eine der größten Legenden des Klubs.

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Von 1990 bis 2003 stürmte Ulf Kirsten für die Werkself, gewann mit ihr den DFB-Pokal, stand im Champions-League-Finale, holte dreimal die Torjägerkanone der Bundesliga. Heute, mit 59 Jahren, arbeitet der „Schwatte” als Repräsentant und im Marketing für seinen anderen langjährigen Verein Dynamo Dresden.

Wie sieht er die aktuelle Lage bei Bayer vor dem Champions-League-Showdown mit dem FC Bayern (ab 21 Uhr im LIVETICKER)? Bei SPORT1 gibt Kirsten in einem seiner seltenen Interviews die Antworten.

SPORT1: Herr Kirsten, Bayern gegen Bayer – wie blicken Sie auf das deutsche Topduell in der Königsklasse?

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Ulf Kirsten: Das sind die zwei Top-Mannschaften in Deutschland und beide momentan auch auf Augenhöhe. Bayer ist einen Tick vorne, wenn man sich die Spielanlage anschaut. Aber die Bayern haben immer bewiesen, dass sie da waren, wenn es drauf ankam. Wir haben aber auch gezeigt, dass man mit uns rechnen muss.

SPORT1: Spielt Bayer Leverkusen nicht den schöneren Fußball?

Kirsten: Ich kann mich erinnern, dass wir schon mal den schöneren Fußball gespielt haben, das liegt einige Jahre zurück. Es geht um erfolgreichen Fußball. Okay, auch da haben wir die Bayern eingeholt (lacht). Dass Bayer den schöneren Fußball spielt, sieht man momentan. Sie liefern hervorragende Spiele ab – mit einer tollen Präsenz und Dominanz. Das hat man am Wochenende beim Sieg in Frankfurt gesehen.

SPORT1: Die Leverkusener sind wieder in der Spur, nachdem es anfangs in der Saison schwierig war. Wie beurteilen Sie die Saison von Bayer?

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Kirsten: Das ist eine hervorragende Mannschaft mit tollen Einzelspielern. Es stimmt, dass sie nicht ganz so gut in die Saison gekommen sind. Aber das lag vielleicht auch daran, dass sie in der vergangenen Saison so krass erfolgreich waren. Jetzt haben sie die Kurve gekriegt und zeigen wieder das, was sie können. Das Team hat einfach eine enorme Qualität.

SPORT1: Bayern hat zuletzt nicht gut gespielt, aber dennoch in der Bundesliga und in der Champions League die nötigen Ergebnisse eingefahren …

Kirsten: Sie haben schon hervorragende Spiele abgeliefert, guten Fußball gespielt und klare Siege erzielt. Sie hatten jetzt eine Phase, in der es spielerisch nicht ganz so rund läuft, aber sie sind erfolgreich. Und das ist ein deutliches Zeichen, dass sie brandgefährlich sind. Mit Bayern musst du immer rechnen, vor allem in der Champions League. Zumal das Finale in München stattfindet.

SPORT1: Wie gut tut es Ihnen als Klub-Ikone Leverkusens auch persönlich, dass der Verein jetzt als große Kraft neben dem FC Bayern genannt wird und man Borussia Dortmund abgelöst hat?

Kirsten: Natürlich tut das gut. Wenn du das Double holst und in der darauffolgenden Saison wieder um den Titel spielst und im Pokal-Halbfinale stehst, dann kann man schon zu recht sagen, dass Dortmund abgelöst wurde. In der Bundesliga geht das aber auch immer recht schnell. In den 90ern hatten wir das eine oder andere Scharmützel mit den Bayern, es gab auch den jahrelangen Zweikampf zwischen Bayern und Werder Bremen, dann später zwischen den Münchnern und dem BVB und seit vergangener Saison wieder zwischen Bayer und den Bayern. Geblieben ist eigentlich immer der Fakt, dass die Bayern oben dabei sind.

SPORT1: Das große Thema bei Bayern ist Joshua Kimmich. Die Bosse haben vergangene Woche das Vertragsangebot an ihn zurückgezogen. Erreicht man so nicht das Gegenteil als eine Zusage?

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Kirsten: Es ist natürlich ein deutliches Zeichen an Joshua Kimmich. Jede Partei wird ihre Gründe haben, aber es wird ja offenbar noch weiter miteinander gesprochen. Das Tischtuch ist noch nicht zerschnitten. Die Bosse wissen, was sie tun und ich hoffe auf eine gute Lösung.

SPORT1: Wie schlimm wäre ein Abschied von Kimmich für die Bundesliga? Er wird ja dann nur noch ins Ausland gehen…

Kirsten: Ich schätze Joshua Kimmich als hervorragenden Sportsmann, er hat tolle Spiele gemacht. Das wird ein großer Verlust sein, wenn es tatsächlich dazu kommt. Kimmich kann ja nach Leverkusen kommen (lacht).

SPORT1: Wie war das damals bei Ihnen? Sie waren ähnlich wichtig für Bayer Leverkusen wie Kimmich für die Bayern.

Kirsten: Zum einen gab es damals noch kein Bosman-Urteil. Es gab einige Anfragen, aber Calli (der ehemalige Leverkusener Manager Reiner Calmund, Anm. d. Red.) hat vieles unter den Tisch fallen lassen und mir nicht alles vorgelegt – das hat er mir später einmal gesagt. Einmal gab es tatsächlich Interesse von den Bayern, als Franz Beckenbauer dort Trainer war. (Anm. d. Red.: Franz Beckenbauer war am Ende der Saisons 1993/94 und 1995/96 zweimal Interimstrainer bei Bayern)

SPORT1: Bei Leverkusen ist Florian Wirtz der Spieler, über den alle sprechen. Glauben Sie, dass er noch ein Jahr in Leverkusen bleibt?

Kirsten: Ich hoffe es, weil er das Spiel schon ausmacht. Man sieht ja, wenn Flo nicht spielt, dass dann gleich ein paar Prozent fehlen. Er ist schon ein großer Spielgestalter und wertvoller Individualist. Wenn man ihn noch ein Jahr behalten könnte, wäre das sensationell. Insgeheim denke ich, es wird es so kommen.

SPORT1: Glauben Sie, dass er seine Zukunft an die von Xabi Alonso knüpft?

Kirsten: Nein. Das wäre nicht schlau von Wirtz. Ich glaube nicht, dass ein Spieler mit seiner Qualität – der irgendwann der absolute Weltstar sein wird – es nötig hat, seine Zukunft vom Trainer abhängig zu machen.

SPORT1: Karl-Heinz Rummenigge hat zuletzt gesagt: „Florian Wirtz ist für mich der beste Spieler Deutschlands. Und ich mache auch keinen Hehl daraus, dass es ganz klar unser Ziel sein muss, Wirtz zu verpflichten.“

Kirsten: Warum sollen die Bayern das nicht versuchen? Es wäre ja fahrlässig. Und die beiden haben schon in der Nationalmannschaft gezeigt, dass sie zusammenspielen können. Dass Bayern versucht, die besten Spieler zu holen, war immer schon so. Das sehe ich genauso wie Rummenigge. Wirtz würde die Bayern noch unberechenbarer machen.

SPORT1: Dass Wirtz für Rummenigge der beste deutsche Spieler ist, sah Lothar Matthäus als Schlag ins Gesicht für Jamal Musiala. Sie auch?

Kirsten: Ich finde, da muss Musiala drüber stehen. Dann ist er halt der Zweitbeste. Ich glaube nicht, dass Musiala so einer Aussage viel Bedeutung beimisst. Man sollte generell nicht alles auf diese beiden Spieler projizieren.

SPORT1: Wie finden Sie es, dass die Bayern ständig an Wirtz rum baggern?

Kirsten: Das ist völlig legitim und das haben sie immer schon gemacht. Mich nervt das nicht. Es werden sich auch andere Vereine um Flo bemühen, bei Bayern ist es halt immer das große Thema. Wenn Bayern sagen würde ‚Wir haben kein Interesse an Wirtz’, das würde sowieso keiner glauben. Die Bayern haben doch ganz andere Ansprüche. Dieses Baggern hat Flo bisher nicht geschadet. Und die Mannschaft auch nicht. Man muss es positiv sehen: Flo ist nun mal einer der heißesten Spieler aktuell auf dem Markt.

SPORT1: Markus Babbel, früher Spieler und Trainer, jetzt TV-Experte, sagte bei Blick Kick: „Ich könnte mir vorstellen, dass die Bayern am Mittwoch mit 4:0 oder 5:0 gewinnen, dass sie Leverkusen aus dem Stadion schießen. Weil jeder meint, Leverkusen ist besser. Das strahlen sie optisch auch aus – nur wir reden über FC Bayern München, der die große Chance hat, das ‚Finale dahoam‘ zu spielen.“

Kirsten: Das ist seine Meinung, die darf hier jeder äußern, ich habe da eine andere. Ich glaube nicht daran, dass Bayern 4:0 oder 5:0 gewinnen wird. Aber Markus kann ja wetten (lacht).

SPORT1: Wie finden Sie es, dass Alonso gegen Bayern zuletzt ohne einen klassischen Neuner gespielt hat?

Kirsten: Ich glaube, wenn man da frühzeitig gewechselt und den Schick gebracht hätte, hätte man gewinnen können. Da war Alonso nicht mutig genug. In der 70. Minute hätte er Schick oder Boniface bringen müssen. Denn die Bayern waren an dem Tag sehr angeschlagen.

SPORT1: Was sagen Sie zur Unzufriedenheit von Victor Boniface? Sein Wechsel zum saudischen Klub Al-Nassr FC scheiterte im Winter.

Kirsten: In meinen Augen ist Patrik Schick der bessere Stürmer. Boniface muss weiter Gas geben und versuchen, vorbeizukommen. Wenn man immer so viel verletzt ist wie Boniface, muss man sich halt hinten anstellen.

SPORT1: Bayer Leverkusen geht am Mittwoch mit einem kleinen psychologischen Vorteil ins Spiel. Unter Alonso hat die Werkself noch kein Spiel gegen die Münchner verloren. Wie wichtig ist dieser kleine Vorteil?

Kirsten: Das macht Bayer sicherlich Mut und wird auch in den Köpfen der Bayern eine Rolle spielen. Überbewerten sollte man es aber nicht, irgendwann wird eine Serie auch gebrochen – ich hoffe nicht am Mittwoch. Meine Prognose ist: Am Ende des Tages werden wir eine Runde weiter kommen.

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